Justiz schützt das Nazi-Paradies Österreich
Kleine Zeitung 28.April 2018
Efraim Zuroff im Interview“In Österreich Nazis zu jagen, ist sinnlos”
Efraim Zuroff hat einen ungewöhnlichen Beruf. Er spürt den letzten NS-Kriegsverbrechern nach. Hier spricht der Leiter des Jerusalemer Wiesenthal-Zentrums über seinen lebenslangen Kampf gegen das Vergessen.
EFRAIM ZUROFF: Auf diese Frage habe ich zwei Antworten, eine mystische und eine praktische. Welche wollen Sie hören?
Beide.
Als ich im Jahr 1948 in New York geboren wurde, hielt sich mein Großvater gerade in Europa auf, um Überlebenden des Holocaust zu helfen. Mein Vater schickte ihm ein Telegramm. Esther hat einen Buben geboren.“ Mein Großvater kabelte zurück: „Nennt ihn Efraim!“ So hatte sein jüngster Bruder geheißen, der während der Schoah mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Wilna ermordet worden war. Ist es da verwunderlich, dass ich mein Leben der Beschäftigung mit dem Holocaust gewidmet habe?
Sie meinen, Ihr ermordeter Großonkel wirkt in Ihnen fort?
Wir litauischen Juden haben es nicht so mit der Mystik. Ich habe nie die Absicht gehabt, Nazi-Jäger zu werden. Mein großer Traum war es, als erster orthodoxer Jude aus Brooklyn Basketball-Spieler in der NBA zu werden. Doch dafür war ich nicht gut genug und du kannst als orthodoxer Jude nicht in der NBA spielen. Prägend für meinen Werdegang war der Sechstagekrieg 1967. Ich lebte noch in New York und sah in der Zeitung eine Karte mit den Truppenstärken. Auf der einen Seite unzählige Panzer, Soldaten, Flugzeuge. Das waren die Araber. Ihnen gegenüber ein einziges Männchen. Das war Israel. Oh Gott, sagte ich zu mir, das wird ein zweiter Holocaust! Dabei gab es keinen Grund, das zu sagen.
Warum nicht?
Weil damals niemand über den Holocaust sprach. Nicht einmal der Umstand, dass ich den Namen eines Holocaust-Opfers trug, war sonderlichen Aufhebens wert. Wichtiger war, dass mein Großonkel ein großer Talmud-Gelehrter gewesen war.
War der Holocaust ein Tabu?
Er war kein Tabu. Aber die jüdische Welt fühlte sich schuldig, weil sie die europäischen Juden nicht hatte retten können. Deshalb blickte man nach vor nicht zurück. Das hat sich mit dem Sechstagekrieg geändert. Mit einem Schlag sind die Verteidigung Israels und der Holocaust weltweit ins Bewusstsein der Juden gerückt. Auch ich beschloss, in Israel leben und dem jüdischen Volk dienen zu wollen.
Was war Ihr erster großer Coup?
Das war Mitte der 1980er-Jahre Ich arbeitete für das Büro für Sonderermittlungen des US-Justizministeriums in Israel. Der Job war öde, weil man mich nur Handlangerdienste machen ließ. Eines Tages erhielten wir die Info, dass Josef Mengele, der berüchtigte KZ-Arzt von Auschwitz, 1946 bei Wien von der US-Army festgenommen und freigelassen worden war. Ein Schock. Man setzte mich an. Ich wusste, dass sich viele NS-Verbrecher nach 1945 als Flüchtlinge hatten registrieren lassen und so nach Übersee geflohen waren. Als ich die Listen des internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes sichtete, sah ich, dass dort alles Wichtige stand: Tag der Auswanderung, Boot, Ziel, ja oft sogar die erste Wohnadresse in den USA. Halleluja, das ist eine Goldmine, sagte ich mir. Um sicherzugehen, glich ich die Namen von 49 lettischen und litauischen Kriegsverbrechern ab und landete 16 Treffer. Da wusste ich, dass ich in fünf Minuten herausfinden konnte, wohin ein Kriegsverbrecher abgetaucht war. Es war der Moment, in dem ich wirklich Nazijäger wurde.
Wie viele NS-Kriegsverbrecher haben Sie vor Gericht gebracht?
Alles in allem waren es an die 40. Aber nur sehr wenige wurden dann wirklich verurteilt. Dazu kommt, dass die meiste Information, die wir erhalten, wertlos ist. Seit wir 2002 die Operation Last Chance zum Aufspüren der letzten NS-Kriegsverbrecher starteten, bekomme ich viele Anrufe aus den USA, die meist so ablaufen: „Ist das das Wiesenthal-Center?“ – „Ja.“ – „Zahlen Sie für wichtige Hinweise?“ – „Nicht immer.“ – „Mmh, trotzdem möchte ich Folgendes melden: Ich hatte gerade Streit mit meinem 90-jährigen deutschen Nachbarn. Das muss ein Nazi sein!“ Aus den über 1000 Namen, die wir gesammelt haben, konnten wir acht Fälle destillieren, wo es eine Verstrickung gab.
Warum ist es so wichtig, NS-Verbrecher nach so vielen Jahren der Justiz zu überantworten?
Ich nenne Ihnen sieben Gründe.
1. Das Verfließen der Zeit macht die Schuld der Mörder nicht geringer.
2. Das Alter darf keinen Kriegsverbrecher schützen.
3. Wir schulden es den Opfern, ihre Mörder zu suchen.
4. Wer solche Verbrechen begeht, soll wissen, dass sogar Jahrzehnte später noch nach ihm gefahndet wird.
5. Weil es wichtig ist, um die Leugnung und Verdrehung des Holocaust zu bekämpfen.
6. Man muss nicht Himmler sein, um als Nazi bestraft zu werden. Der Holocaust war nur möglich, weil es viele kleine John Demjanjuks gab.
7. In den über 35 Jahren, die ich Nazis jage, bin ich keinem einzigen Verbrecher begegnet, der Reue zeigte. Als wir Ende 1998 in Argentinien Dinko Šakić aufstöberten, den Kommandanten des von der Ustascha geleiteten KZ Jasenovac, erklärte dieser vor laufenden Kameras: „Das Problem an Jasenovac war, dass man uns den Job nicht zu Ende bringen ließ.“ Mit Job meinte er den Mord an Zehntausenden Juden, Roma und Serben. Diese Leute verdienen kein Erbarmen!
Ist Ihre Arbeit gefährlich?
Je erfolgreicher ich in einem Land bin, desto mehr hassen sie mich. Im Fall von Milivoj Ašner, der als Polizeichef der Ustascha an der Deportation von Serben und Juden beteiligt gewesen war und bis zu seinem Tod unbehelligt in Klagenfurt lebte, wurde sogar ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt. Ich war beleidigt, weil sie für den kroatischen Justizminister dreimal so viel boten!
Wir sehen, Sie haben Ihren Humor nicht verloren.
Den braucht man in meinem Job. Und eine dicke Haut und einen langen Atem. Auch ein Gespür für politische Entwicklungen ist nicht von Schaden.
Was ist übler: den Holocaust zu leugnen oder ihn zu verdrehen?
Zweiteres, weil man viel schwerer dagegen ankämpfen kann. Es ist kein Zufall, dass die Verdrehung heutzutage vor allem in Osteuropa stattfindet. Anders als in Westeuropa beteiligten sich dort die Einheimischen aktiv am Judenmord, und um das zu verschleiern, behauptet man nun, der kommunistische Terror sei auch ein Genozid gewesen. Das ist Unsinn. Stalin fielen zwar mehr zum Opfer als den Nazis. Aber der Massenmord war nicht industrialisiert.
Sie haben Österreich einmal das letzte Naziparadies genannt.
Und jeder erinnert sich noch daran. Es stimmt ja auch, und genau das ist das Problem.
Was ist das Problem?
Dem Land fehlt der politische Wille, NS-Kriegsverbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
Paradebeispiel ist die einstige KZ-Wärterin Erna Wallisch, die wir 2007 in Wien aufstöberten. Diese Frau hat in Majdanek Kinder in die Gaskammern geführt. Als ich mich mit Karin Gastinger, der damaligen Justizministerin, traf, eröffnete sie mir, Wallisch könne nicht verfolgt werden, weil passive Komplizenschaft bei Völkermord in Österreich nicht geahndet würde. Entschuldigen Sie, aber was für eine Scheiße ist das denn! Totaler Bullshit. Die Deutschen haben ihre Strafverfolgungspolitik längst geändert.
Doch Österreich bleibt untätig. Dabei ist es voller Nazis. Doch in Österreich Kriegsverbrecher zu jagen ist sinnlos, eine reine Zeitverschwendung! Sie landen sowieso nicht vor Gericht!
Die FPÖ möchte ihre braunen Flecken loswerden und umwirbt Israel. Ist das nichts?
Die FPÖ will von Israel doch nur die Bescheinigung bekommen, dass sie koscher ist. Aber wir können nicht mit Leuten Freund sein, die keine Juden mögen. Aber wenn Sie mich schon so fragen: Die FPÖ soll ein paar alte Nazis vor Gericht bringen. Das wäre ein viel überzeugenderes Argument als jede Historikerkommission!
Waren Sie nie versucht, Ihren Rachegelüsten nachzugeben?
Es gab eine einzige solche Situation. Als wir Sándor Képíró aufspürten, der 1942 das Massaker an 1200 Juden, Roma und Serben in Novi Sad mitorganisiert hatte, und ich in Budapest vor seiner Wohnung stand, sagte ich zu mir: „Efraim, nichts wäre jetzt leichter, als ins Haus zu gehen, anzuklingeln und diesen Bastard zu töten.“ Da habe ich mich daran erinnert, was Simon Wiesenthal immer zu uns gesagt hat: „Wir wollen Recht nicht Rache.“ Und daran habe ich mich dann gehalten.